Springe auf Hauptinhalt Springe auf Hauptmenü Springe auf SiteSearch
Science-Fiction unterm Kupferdach - Neuartiger Fassadenwerkstoff für altehrwürdiges Gebäude

Ist das der Stoff, aus dem Architekten­träume sind?

Eine überdimensionale weiße Haube hängt über dem Interims­eingang zum Deutschen Museum in München. Die gewellte Oberfläche mit unzähligen Ausbuchtungen nimmt sich aus wie ein gigantisches weißes Tuch. Diffuses Licht dringt durch die semitransparente Haut, nachts schimmert die Fassade silbern. Was im Moment noch Zukunftsmusik ist, könnte schon bald Realität sein: Dieses Fassadenmaterial scheint das Zeug zum Alleskönner zu haben. Es ist leicht, multifunktional und dazu noch kostengünstig und umweltschonend, denn es wird aus Recyclingmaterialien gewonnen. Die daraus bestehenden Fassadenelemente werden mit dem 3D-Drucker hergestellt. Sie lassen sich nahezu beliebig formen und gestalten. Dieser potenzielle Tausendsassa unter den Werkstoffen hat – zumindest aus Klempnersicht – nur einen Haken: Er ist nicht aus Metall! Dennoch lohnt es sich, einen Blick darauf zu werfen.

Durchdachte Struktur mit integriertem Sonnen- und Schallschutz

Die milchig-weißen Bauelemente sind aus PET-Kunststoff und werden in erstaunlich geringen Schichthöhen von teilweise nur 0,3 mm im 3D-Druck erzeugt. Das Konzept ist ausgeklügelt: Kleine Luftkammern im Innern verleihen dem dünnen Werkstoff Stabilität und wirken gleichzeitig dämmend. Diese Kammerstruktur erfüllt zudem eine tragende Funktion – etwa damit die Fassade Windlasten aufnehmen kann. 

Die Wellenstruktur der Oberfläche setzt sich aus drei abgestuften Ebenen zusammen, die Schicht für Schicht gedruckt werden. Die großen Makrowellenstruktur untergliedert sich in eine mittelgroße Mesowellenstruktur, die Licht und Hitze von außen dimmt. Länge, Höhe und Schichtdicke der Wölbungen sind so konzipiert, dass sie im Sommer verschatten und im Winter genügend Sonnenlicht durchlassen. Auf der Mesowellenstruktur sitzt wiederum eine kleinere Mikrowellenstruktur. Mit ihrer rippenartigen Struktur dienen sie dem Schallschutz.

Die mehrschichtige wellenförmige Struktur erfüllt verschiedene Funktionen

Bild: Andreas Heddergott / TU München

Die mehrschichtige wellenförmige Struktur erfüllt verschiedene Funktionen
Die Visualisierung zeigt, wie die Fassade am temporären Eingangsgebäude des Deutschen Museums in München aussehen soll

Bild: Architekten Schmidt-Schicketanz und Partner GmbH/3F Studio, Visualisierung: nuur.nu

Die Visualisierung zeigt, wie die Fassade am temporären Eingangsgebäude des Deutschen Museums in München aussehen soll

Smarte Eigenschaften ohne kostenintensive ­Systemtechnik

All diese Eigenschaften sind skalierbar, können also nach Belieben verstärkt oder abgeschwächt werden. So lassen sich per 3D-Druck Funktionen wie Lüftung, Dämmung und Beschattung ohne teure Systemtechnik in die Fassadenelemente integrieren. Komplexe und entsprechend kostspielige Steuerungen, Sensoren oder Servomotoren sind somit überflüssig. Außerdem reduziert das Verfahren das Risiko von Planungs- und Produktionsfehlern. Der Materialrevolution könnte also eine Kostenrevolution folgen.  Das Konzept der wellenförmigen Gestalt nennt sich Fluid Morphology – fließende Form.

Testphase bestanden

Ob der neuartige Baustoff auch unter realen Bedingungen hält, was er verspricht, wollten die Forscher in einer einjährigen Testphase ab dem Frühjahr 2018 herausfinden. Ein 1,6 x 2,8 m großes Fassadenelement wurde auf der Solarstation der TU München angebracht, um es Witterung und UV-Strahlung auszusetzen. Sensoren haben Daten gesammelt, die Aufschluss gaben über Widerstandsfähigkeit und Energieeffizienz.

Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass das Konzept funktioniert. Auf dieser Basis haben die Architekten einen weiteren Prototyp aus Polycarbonat gefertigt. Denkbar sind allerdings auch biologische Reststoffe oder Holzreststoffe als Ausgangsmaterial. Hier sieht Moritz Mungenast noch großes Poten­zial.

Vor allem für öffentliche Gebäude geeignet

Ob es für Wohngebäude taugt, ist fraglich. Denn wer möchte schon in seinem Wohnzimmer hinter einer halbtransparenten Wand sitzen, die einerseits keine freie Sicht nach außen erlaubt, andererseits auch nicht völlig vor Blicken abschirmt. Das wäre vergleichbar mit Wohnen hinter Glasbausteinen oder vollflächig satinierten Glasfronten. Vorstellbar wäre der Einsatz an öffentlichen Gebäuden wie Museen, Bibliotheken, Konzerthallen oder auch Einkaufszentren.

Aus dem Projekt Fluid Morphology ist inzwischen ein Start-up entstanden. Gemeinsam mit Oliver Tessin und Luc Morroni hat Moritz Mungenast 2018 das Münchner Unternehmen 3F Studio gegründet, das auf 3D-gedruckte Architektur und Gestaltung spezialisiert ist.

Über einen Steg an der Ufermauer werden Fußgänger und Fahrradfahrer die spektakuläre Hülle passieren können

Bild: Architekten Schmidt-Schicketanz und Partner GmbH/3F Studio, Visualisierung: nuur.nu

Über einen Steg an der Ufermauer werden Fußgänger und Fahrradfahrer die spektakuläre Hülle passieren können
Moritz Mungenast im Labor der TU München, wo er das Konzept Fluid Morphology entwickelt hat

Bild: Andreas Heddergott / TU München

Moritz Mungenast im Labor der TU München, wo er das Konzept Fluid Morphology entwickelt hat

Spektakuläre Fassadenlösung für temporären ­Gebäudetrakt

Es wurde eine multifunktionale und lichtdurchlässige Fassade aus recycelbarem Material entworfen und geplant, die wohl nirgends besser aufgehoben ist als am größten und bekanntesten Hort für alte und neue Technik in Deutschland: am Deutschen Museum in München. Hier befindet sich zurzeit eine Großbaustelle, denn das Museum soll bis 2025 umfassend modernisiert werden. Die Fertigstellung des ersten Bauabschnitts ist bis 2021 geplant. Da im Zuge der Baumaßnahmen der Eingang vorübergehend verlegt werden muss, haben die Architekten der Schmidt-Schicketanz und Partner GmbH mit der Museumsleitung eine besonders zukunftsweisende Interimslösung gewählt: eine Fassade aus dem 3D-Drucker.

Wenn der erste Bauabschnitt abgeschlossen ist und eröffnet wird, erhält der zweite Bauabschnitt einen provisorischen Eingang an der Corneliusbrücke. Dafür soll vor der Fassade des jetzigen Zentrums für neue Technologie (das bereits fertig saniert ist) ein temporäres Eingangsgebäude errichtet werden. Und ebendieser Trakt soll eine Fluid-­Morphology-Bekleidung erhalten. Ein über die Isar hinausragender Steg an der Ufermauer wird Fußgänger und Fahrradfahrer an der Hülle vorbeiführen.

100-prozentig wiederverwendbar

Das Konzept sieht wieder eine Wellenstruktur vor – passend zur Lage am Wasser. Längliche Innenstruktur im Panel schafft Stabilität und bilden gleichzeitig eine Dämmschicht. Im Sommer werfen die Wölbungen angenehmen Schatten. Und nach dem Auftritt am temporären Eingangsgebäude kann die riesige Plane aus PETG in mehreren (Lebens-)Zyklen zu 100 % für andere Fassaden wiederverwendet werden.

Eine Fassadenfläche von 750 m² ist natürlich eine andere Herausforderung als ein kleiner Prototyp. Dafür sind speziell entwickelte digitale Werkzeuge erforderlich. Mit dem Pilotprojekt erfolgt zum ersten Mal eine industrielle Anwendung der 3D-Druck-Technologie Fused Deposition Modeling (FDM) im Gebäudemaßstab.

Weltpremiere im Sommer 2021

„So etwas gibt es bisher noch nirgends auf der Welt“, freut sich Axel Cronauer, Verwaltungsratsvorsitzender des Deutschen Museums im Interview mit der Süddeutschen Zeitung vom 17. Januar 2020. Finanziert werden soll das Projekt aus Spenden, wobei sich insbesondere die Technische Universität München engagiert. Voraussichtlich wird es im Sommer 2021 so weit sein: Dann können Museumsbesucher und Passanten die einzigartige Gebäudehülle begutachten.

Einen Vorgeschmack bieten schon jetzt Visualisierungen, die zeigen, wie die Fassade wahrscheinlich aussehen wird. Einen Eindruck von Optik und Beschaffenheit des Materials kann man sich in einem Video verschaffen, das unter https://mediatum.ub.tum.de/1378478 auf der Internetseite der TU München bereit steht.

Übrigens: Für die Dauer des zweiten Bauabschnitts, solange der provisorische Eingang besteht, können neugierige Klempner das Material unter die Lupe nehmen. Zum Beispiel um zu erfahren, ob der Stoff aus dem 3D-Drucker als Gebäudehülle über einen längeren Zeitraum hinweg so alltagstauglich wie Metall und damit zukunftsfähig ist. Es bleibt also spannend!

So fertigt der 3D-Drucker ein Fassadenelement

Bild: Andreas Heddergott / TU München

So fertigt der 3D-Drucker ein Fassadenelement

Diskutieren Sie mit!

Hat dieses Konzept eine Zukunft?
Was meinen Sie: Ist die Idee, multifunktionale Bauteile aus Kunststoff – oder auch anderen Materialien – im 3D-Druckverfahren herzustellen, genial oder das Hirngespinst von Architekten und Labormäusen? Können sie tatsächlich Wind, Wetter, Sonne, Regen, Schmutz und dem Zahn der Zeit standhalten? Sind sie so beständig, flexibel, dämmend, lüftend und auch kostengünstig, wie man es sich erhofft? Und vor allem: Können sie optisch mit dem edlen Werkstoff Metall konkurrieren? Schreiben Sie uns Ihre Meinung an:

Übrigens: BAUMETALL stellte das neue Kupferdach des Deutschen Museums in Ausgabe 1/2012 im Artikel G „Reif für die Insel“ vor.

Bild: BAUMETALL

Ist PET-Kunststoff als Material für die Klempner der Zukunft interessant?
Was meinen Sie? Senden Sie uns Ihre Meinung an redaktion@baumetall.de

Jetzt weiterlesen und profitieren.

+ BM E-Paper-Ausgabe – jeden Monat neu
+ Kostenfreien Zugang zu unserem Online-Archiv
+ Themenhefte
+ Webinare und Veranstaltungen mit Rabatten
uvm.

Premium Mitgliedschaft

2 Monate kostenlos testen