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Zeitgeist aus dem Jahre 1904

Die neuen, erstmals einheitlichen Lehrpläne der mecklenburgischen Gewerbeschulen vom Jahre 1903 brachten zehn Gewerbeschullehrer dazu, dieses „Lesebuch“, wie sie es selbst nannten, zu verfassen. Die mir vorliegende Prämien-Ausgabe von 1904, Druck der Bärensprungschen Hofbuchdruckerei in Schwerin, umfasst 576 Seiten in Fraktur zzgl. 8 Seiten Inhaltsverzeichnis sowie einzelner Seiten mit Fotodrucken. Der Band ist in Leinen gebunden mit geprägtem Schmuckwappen, mit einem bedruckten und mit Goldfäden durchwirkten Vorsatzpapier, der Buchschnitt ist durchgehend rot gefärbt. Auf der Widmungsseite ist der Name herausgekratzt, jedoch wurden in Sütterlin die Daten des Schulbesuches von 1908 bis 1912 verzeichnet sowie der Ort Boizenburg mit Stempel und Unterschrift des Vorstandes.

Rarität: das im Buch abgebildete Klempnerwappen

Bild: Antje Walter

Rarität: das im Buch abgebildete Klempnerwappen
Blick in das Lese-, Lehr- und Hilfsbuch für Gewerbeschulen von 1904

Bild: Antje Walter

Blick in das Lese-, Lehr- und Hilfsbuch für Gewerbeschulen von 1904
Philosophisches zum Wesensbild eines Azubis

Bild: Antje Walter

Philosophisches zum Wesensbild eines Azubis

Der Zeitgeist spricht nicht nur aus den Texten, sondern auch aus der detaillierten Ausgestaltung der einzelnen Seiten mit Schmuckbändern, illustrierten Kapitelanfängen und -enden. Das Werk umfasst drei Abschnitte zu jeweils mehreren Teilen. Dem Zeitgeist gewidmet beginnt der erste Teil des ersten Abschnitts mit den religiös-sittlichen Grundlagen des Handwerks und Ausführungen zu den Fragen: „Wer soll Lehrling
sein? – Jedermann.“ „Wer soll Geselle sein? – Wer was kann.“ Und: „Wer soll Meister sein? – Wer was ersann.“ Der zweite Teil des ersten Abschnitts führt in die Volkswirtschaft mit allen Facetten.

Der zweite Abschnitt ist dem Handwerker in seinem Beruf gewidmet und behandelt in Teil 1 die Gesetzeskunde, in Teil 2 Naturkunde und Gesundheitslehre und in Teil 3 die Fachkunde der einzelnen Berufssparten, nach Alphabet sortiert, beginnend bei Bäcker, Barbier über Fleischer, Glaserei, Klempnerei bis hin zu Hufbeschlag und Tischler.

Der dritte Abschnitt „Der Handwerker am Schreibtisch“ steht unter dem Motto: „Führe buch und kalkulier‘; rechne gut, ich rat‘ es dir!“ Unschwer zu erraten geht es in Teil 1 um die gewerbliche Buchführung, in Teil 2 um Preisberechnung und Teil 3 über das gewerbliche Rechnen ist nochmals unterteilt in Unterstufe, Mittelstufe und Oberstufe passend zu den jeweiligen Berufsgruppen.

Im Fachkundeteil sind der Klempnerei immerhin 6 Seiten gewidmet. Einführend wird auf die Entstehungsgeschichte der Blechbe- und -verarbeitung beginnend bei den Phöniziern über die Ägypter, Griechen und Römer eingegangen, anschließend auf die verschiedenen Fertigungsverfahren sowie deren Vorzüge in Bezug auf unterschiedliche Materialien.

Historisch gesehen war das Klempnergewerbe im 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf einer recht niedrigen Stufe, wobei es auch hier einzelne herausragende Meister gab, wie die Gestalt der Viktoria auf dem Brandenburger Tor in Berlin beweist, die aus Kupfer getrieben wurde. Im Allgemeinen beschränkte sich die Arbeit auf Haus- und Küchengeräte sowie prosaische Bauarbeiten aus Weiß- und Eisenblech. Erst die Erfindung der Lampen zu Beleuchtungszwecken, die Verwendung von Petroleum und Spiritus zum Kochen, moderne Wasserleitungs- und Heizungsanlagen sowie die Verfahren des Metalldrückens und Stanzens und die Verwendung des Zinks führten zu einem bedeutsamen Aufschwung des Klempnerhandwerks. Herausgestellt wird hierbei, dass neben allem Werkzeug und aller Maschinen noch immer die Handfertigkeit des Klempners den Ehrentitel eines HANDwerksmeisters ausmacht.

Danach werden die verschiedenen Werkzeuge wie Hämmer und Eisen in ihrem Aussehen und ihrer Verwendung beschrieben, anschließend die einzelnen Maschinen, wie Tafel- und Kreisschere, Rund- und Wulstmaschine, Abbiegebank, Sickenmaschine und Drückbank. Es folgen Erläuterungen zu den Arbeitsschritten des Anreißens und Zuschneidens, Polierens, Spannens, Durchbrechens und Umschlagens, Drahteinlegens und Bördelns, Rundens und Aufziehens. Ausführlich wird auf das Metalldrücken mittels Drückbank eingegangen, die im Jahre 1816 in Paris erfunden wurde.

Ein weiterer Abschnitt behandelt das Löten inklusive der Herstellung des benötigten Lötwassers sowie der Ausführung der einzelnen Arbeitsschritte. Auch das Nieten findet Erwähnung.

Abschließend wird auf die Ordnung und Sauberkeit in der Werkstatt sowie der Werkzeuge und Maschinen eingegangen. „Von dem Werkzeug kann man auf den Meister und seine Leistungen schließen“, schließt der Verfasser L. Weber seine Ausführungen zum Beruf des Klempners.

Aus historischer Sicht bietet das Buch einen wirklich umfassenden Blick auf Zeitgeist und Berufe dieser Zeit sowie deren Bedeutung. Zu lesen mit einem teils wehmütigen Blick, zugleich einem Schmunzeln ist dieser Band noch heute in einigen Antiquariaten zu moderatem Preis erhältlich. Leider enthält dieses Buch keine Zeichnungen, Modellbögen oder Blechabwicklungen.

Gripsgymnastik: eine Textaufgabe, deren Lösung heute noch interessanter scheint als 1904

Bild: Antje Walter

Gripsgymnastik: eine Textaufgabe, deren Lösung heute noch interessanter scheint als 1904
Historisches Kupferschmiedewappen

Bild: Antje Walter

Historisches Kupferschmiedewappen

Info

Titel: Lese-, Lehr- und Hilfsbuch für Gewerbeschulen

Jahr: 1904, 576 Seiten, 15,5 x 22,0 x 4,0 cm, Hochformat

Verfasser: Martens (als Ideengeber) + eine Kommission von zehn Schweriner Gewerbeschullehrern

Ort/Verlag: Schwerin, Druck der Bärensprungschen Hofbuchdruckerei

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