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Selbst und ständig

Bei meiner Tätigkeit als Wirtschaftsjournalist stoße ich immer wieder auf Wirtschaftsformen, denen es gelingt, gegen den Trend des Neoliberalismus – mit seinen axiomatischen Wachstumspredigten, dem geforderten Steigern des Shareholder-Value, den unmenschlichen Arbeitsbedingungen – dank einsichtiger, kluger Inhaber/Chefs auskömmlich erfolgreich zu sein, ohne die Familie oder gar sich selbst zu vernachlässigen.

Viele Menschen erlebe ich, die sich selbst hetzen lassen, die am Tropf des Money-Machens hängen, die keine Minute mehr ohne Tun und Machen leben können, weil sie arbeitssüchtig geworden sind. Sie leben aus meiner Sicht irgendwie wahnwitzig dahin. Umso erfreulicher ist es für mich, Menschen zu begegnen, denen für sich eine sinnvolle Einteilung gelingt. Von einigen dieser Leute möchte ich kurz berichten, da in unseren Medien fast nur der Eindruck erweckt wird, als seien Stress, volle Terminkalender, Überaktivität Begleiterscheinungen des Seins, denen man nicht entkommen kann. Das Wort Muße scheint nurmehr sehr wenigen Menschen bekannt zu sein und hat einen anrüchigen Beigeschmack. Auch die Idee, nur für sein Auskommen zu arbeiten und dann alle viere von sich zu strecken, scheint nah verwandt mit Faulheit und südländischem Gebaren. Vielleicht sind diese Formen jedoch auch Temperamentssache. Das frage sich jedoch jeder selber, jetzt oder irgendwann.

Nimm dir Zeit und nicht das Leben

Eine Handwerksunternehmerin mit 35 Mitarbeitern traf ich werktags um 16.30 Uhr in ihrem Privathaus an, beim Lesen eines Buches. Sie meinte: „Warum soll ich mehr arbeiten als meine Mitarbeiter, welche eine Regelarbeitszeit von 38,5 Wochenstunden erbringen? Mein Ziel ist es, in fünf Jahren 20 Stunden je Woche für meinen Betrieb aufzuwenden. Das ist alles nur eine Frage von System und Konsequenz.“

Drei Handwerksmeister – einer arbeitet mit fünf Mitarbeitern, seine Frau bewältigt das Rechnungswesen, zwei sind Einmannbetriebe mit Bedarfshelfern – treffe ich häufig in unserer kleinen Kneipe, wo sie sich nach getaner Tagesarbeit einen Trunk genehmigen, Smalltalk führen, zuhören und lustig sind und sich entspannen. Einen regionalen Eisenwarenhändler kontaktierte ich telefonisch wegen eines kostenlosen Reports für unsere Fachzeitung. Er zeigte kein Interesse, was zu respektieren war. Als ich in die Nähe seines Standortes in Bayern kam, reizte es mich, seine Firma zu sehen und ihn kurz kennen zu lernen. Beim Eintritt in den schmucken Selbstbedienungsteil des Betriebes stieß ich auf eine freundliche Informationsdame, die auch TV-Vermittlung machte und mir sagte, der Chef sei nicht da. Nachdem ich erklärt hatte, ich sei auf der Durchreise und würde ihn nur für Minuten aufhalten, gab sie ihrem Herz einen Ruck und zeigte auf den Hof mit dem Hinweis, der Mann in der Ecke, ganz hinten an der Kreissäge, das sei der Geschäftsführer und Inhaber. Ich solle nur hingehen. Das tat ich. Der holzsägende Manager schaltete die Säge nicht ab, als ich herantrat. Er verschob die Arbeitsschutzbrille nach oben. Ich stellte mich vor mit meinem Anliegen, durch die Firma gehen zu dürfen. Dies wurde bewilligt mit dem Hinweis, er zerkleinere gerade Verpackungsholz für seinen Kachelofen und die zwei Ausgaben unserer Fachzeitung, welche ich in der Hand hielt, solle ich am Empfang abgeben. Dann wurde die Brille wieder über die Augen geschoben, weitergesägt und ich war entlassen. Die Besichtigung im Alleingang zeigte einen kundenbezogenen, modernen Betrieb, ohne überzogene Öffnungszeiten, lagerhaltend ca. 30 000 – 35 000 Artikel, mit ca. 20 beflissenen Mitarbeitern und wohl einer vollen Nutzenstiftung in der Region, was mir ein Freund später bestätigte. Der alte bayerische Spruch „Leben und leben lassen“ kam mir in den Sinn.

Leben und leben lassen

Zwei andere Manager fallen mir dazu noch ein, die von Montag bis Freitag sehr intensiv tätig sind. Sie sagen: Es gelingt uns freitagabends vollständig auszusteigen und samstags und sonntags gut zu relaxen. Dies ist natürlich auch ein positiver Weg. Wenn ich heute als Branchen-Observer die vielen Bemühungen beobachte, wie vor allem die Industrie mit professionellem Marketing versucht, Zehntausende von Fachhandwerkern und Gewerbetreibenden zu mehr Einsatz und Gewinnsteigerung zu bewegen, und ich selbst habe als Marketing-Liebhaber mit Fachbeiträgen Wege dazu aufgezeigt, so ist es mir doch von meiner Art her eine Genugtuung zu sehen, dass es größere Zahlen von Menschen und Betrieben gibt, welche sich nur in dem ihnen zuträglichen Rahmen dazu bewegen lassen, die Märkte offensiv zu durchdringen – weil es einfach so auch reicht. Und es wird immer wieder gesagt: Wir brauchen ja in den nächsten Jahren auch noch Arbeit. Wieso also jetzt Luftsprünge machen?

Geld alleine und immer mehr und mehr hebt das Wohlbefinden des Einzelnen und der Familien nämlich in Wirklichkeit nicht. Mehr Zeit für sich, die Familie und Freunde jedoch schon. Das erscheint zunftgemäß.

Ludwig Koschier

war 46 Jahre überwiegend im Fachgroßhandel tätig. Auch aus dem Ruhestand beobachtet er die Branche mit Interesse und kritischem Blick, 83404 Ainring, Telefon (0 86 54) 5 02 01, office@ludwigkoschier.de

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